„Bis hierhin und nicht weiter!“ – Über die Grenzen von Coaching

Meine Fortbildungsunterlagen nehmen mittlerweile 13 breite Ordner im Regal und über 22 Gigabyte Speicherplatz auf der Festplatte ein. Neben meinen theologischen und pädagogischen Berufsabschlüssen habe ich vier Coachingausbildungen absolviert und Dutzende Weiterbildungen (v.a. zu psychologischen Themen) abgeschlossen. Allein in den letzten zehn Jahren sind so weit über 3000 Stunden Lernen zusammengekommen. Zudem habe ich annähernd 2500 Personen unterschiedlichster Alters- und Berufsgruppen gecoacht.

 

Will ich mich gerade in deiner Bewunderung sonnen oder bin ich einfach nur arrogant?

 

Weder noch – mir geht es um etwas ganz anderes. Denn eins haben in den Coachingausbildungen alle meine Dozent: innen (u.a. Dick Vink (†), Jens Bornkamp, Sarah Morzinek, Dr. Sebastian Schmitter, Henry Reyenga Jr.) immer wieder betont – Coaching ist Beratung, Begleitung und Unterstützung von psychisch gesunden Menschen. Coaching ist keine Psychotherapie!

 

Denn wer als Psychologischer Psychotherapeut tätig werden will muss sich an die Voraussetzungen des Psychotherapeutengesetzes halten. Bis 1998 durften bis auf wenige Ausnahmen nur approbierte Ärzte Psychotherapie durchführen.

Seit 1999 ist der Personenkreis erweitert, allerdings unter strengen Anforderungen:

  • Bachelor und Master in Klinischer Psychologie (Studiendauer insgesamt in Vollzeit: 5 Jahre)
  • Weiterbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten (Dauer: 3 Jahre Vollzeit bzw. 5 Jahre Teilzeit), bestehend aus

o   Ausbildung in medizinisch anerkannten Therapieverfahren (z.B. Systemische Therapie, Verhaltenstherapie, Psychoanalyse)

o   600 Stunden Theorie

o   1800 Stunden Praxis

§  1200 Stunden in einer psychiatrischen Klinik

§  600 Stunden in einer psychosomatischen Klinik oder psychotherapeutischen Praxis

o   600 Behandlungsstunden unter Supervision

o   150 Supervisionsstunden, davon min. 50 als Einzelsupervision

o   120 Stunden Selbsterfahrungen

 

Absatz 1 §1 des Psychotherapeutengesetzes besagt: „Wer die Psychotherapie unter der Berufsbezeichnung „Psychotherapeutin“ oder „Psychotherapeut“ ausüben will, bedarf der Approbation als „Psychotherapeutin“ oder „Psychotherapeut“. […]“

 

Immer wieder aber stolpere ich über Internetseiten, auf denen Coaches sich als „freier Psychotherapeut“ bezeichnen oder therapeutische Behandlung anbieten. Und ich treffe in meiner Arbeit auf Menschen, die mir berichten, dass Coaches ihnen gegen Depression Spaziergänge am See und Gute-Laune-Musik verordnet haben.

 

Das ärgert mich unglaublich!

 

Zum einen, weil durch solche Einzelfälle ein ganzer Berufsstand in Misskredit gebracht wird. Zum anderen und in meinen Augen viel entscheidender, weil hier verantwortungslos mit der Gesundheit von Menschen gespielt wird!

 

Coaching und Psychotherapie haben durchaus Gemeinsamkeiten. Im Coaching wird z.B. eine Vielzahl von Methoden und Interventionsmöglichkeiten genutzt, die ihren Ursprung in der Psychotherapie haben; dazu zählen beispielsweise Problemanalyse, Ressourcenaktivierung und Imaginationstechniken. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass der Ratsuchende bzw. Patient mit seinem individuellen Anliegen im Mittelpunkt steht. Und die Verbesserung und Stabilisierung der Selbstregulierungsfähigkeiten ist sowohl dem Coaching als auch der Psychotherapie ein großes Anliegen.

 

Aber es ist ein großer Unterschied, ob ich einen psychisch gesunden Menschen coache oder es mit einer psychisch kranken Person zu tun habe! Das Feld der psychischen Erkrankungen ist viel zu riesig, als dass es sich hier darstellen ließe. Ein paar Punkte gibt es aber, die psychische Erkrankungen, so unterschiedlich sie auch sind, eint:

 

  • Psychische Erkrankungen sind ein komplexes Gebilde aus genetischen Dispositionen, molekularen Faktoren, kognitiven Prozessen, Umwelteinflüssen und der individuellen Resilienz.
  • Psychische Erkrankungen sind anders als ein Hautausschlag oder eine Schnittwunde nicht äußerlich sichtbar, sondern bedürfen einer detaillierten Diagnose durch Fachpersonal.
  • Jede psychische Erkrankung (z.B. Borderline) erhöht das Risiko, an einer weiteren psychischen Störung zu erkranken (sog. Komorbidität).
  • Psychische Erkrankungen sind mit einer häufig drastischen Verminderung der persönlichen Lebensqualität verbunden, da Selbstmanagement- und Selbstregulierungsfähigkeiten fehlen.
  • Psychische Erkrankungen lassen sich häufig mit einer Kombination aus therapeutischen Verfahren (z.B. kognitive Verhaltenstherapie oder dialektisch-behaviorale Therapie) und der Gabe von Psychopharmaka (z.B. Antidepressiva) besonders effektiv behandeln.
  • Psychische Erkrankungen bedeuten auch heutzutage vielfach noch gesellschaftliche Stigmatisierung („Der ist gefährlich“, „Die ist irre“).

Gerade weil das Feld der psychischen Erkrankungen so weit und komplex ist hat der Gesetzgeber hohe Hürden gelegt und strenge Regelungen erlassen, damit auch nur fachliche gut ausgebildete Personen Diagnosen stellen und Therapien durchführen dürfen. Deshalb tun verantwortungsvolle Coaches gut daran, die Grenzen zur Psychotherapie zu respektieren.

Christopher Rauen hat in einer sehr guten Übersicht noch einmal die wesentlichen Unterschiede zwischen Coaching und Psychotherapie herausgearbeitet. In einem vertiefenden Artikel im Coaching-Magazin behandelt die Autorin Nina Meier die Abgrenzung zwischen Coaching und Psychotherapie aus einer juristischen Perspektive. Christine Paulus schließlich gibt in einem Video Antworten darauf, wann Coaching passt und wann Therapie angeraten ist.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0